Leben mit Kindern,  Lifehacks

Lebenslange Stilldemenz?


WO IST MEIN HIRN?

Wurde es mit der Muttermilch ausgesogen?

Oder habe ich es im Kreißsaal vergessen? Seit Schwangerschaft #1 mit anschließender Stillzeit vergesse ich alles. Bedenklich, denn diese liegt mehr als zehn Jahre zurück. Droht mir Stilldemenz ein Leben lang? Selbst wenn die Muttermilch bis aufs letzte Tröpfchen versiegt ist?

Namen, Termine, Bestandteile der Einkaufsliste, mal Unwichtiges, oft Wichtiges. Im einen Moment vermeintlich sicher im Gedächtnis, im nächsten ausradiert, als habe sie es nie gegeben.

 

Aktuelles Beispiel:

Mein Mann packt die Koffer für eine Dienstreise. Vor Wochen will er mir davon erzählt haben, angeblich mehr als einmal. Hat er recht? Ich befürchte, ja: Dunkel, ganz dunkel, spukt es in meinen grauen Zellen.

Schemenhaft huschen einzelne Erinnerungsfetzen über den gedanklichen Bildschirm. Leider fügen sie sich nicht zum erhofften Gesamtbild zusammen. Eine Weile gaukle ich Wissenheit vor. Lange lässt sich die Fassade nicht aufrecht erhalten und schließlich muss ich mir die Blöße geben. Nachfragen, wahrscheinlich nicht zum ersten Mal:

Wohin geht denn die Reise?

Wann hat das Vergessen Einzug in mein Gehirn gehalten?

Wann hat es das erste Mal seinen schwarzen Mantel über Informationen, manche nutzlos, manche leider notwendig, ausgebreitet? Die Antwort ist leicht:

Ich kann mich nicht erinnern.

Früher konnte ich mich auf mein Gedächtnis verlassen. Es war ein Leichtes, Neuigkeiten aufzunehmen, kurz-, mittel- oder längerfristig zu archivieren und wie auf Knopfdruck wieder abzurufen. Zu Schulzeiten spazierten mathematische Formeln, französische Grammatikregeln und Unmengen an lateinischen Vokabeln in meinen Kopf, haben es sich dort gemütlich gemacht und sind über Jahre geblieben. Ellenlange Paragraphenketten, juristische Definitionen, fundamentale BGH-Rechtsprechung gesellten sich in den Studienjahren hinzu, ohne dass in den grauen Stübchen Chaos ausgebrochen wäre.

Meine Auffassungsgabe hat nicht nur mir, sondern gelegentlich auch anderen gute Dienste erwiesen.

Wollte eine Freundin in einem Club die Telefonnummer eines Angebeteten notieren, hatte weder Stift noch Papier zur Hand – das heute allgegenwärtige Handy war damals noch Zukunftsmusik, merkte ich mir unabhängig von der Uhrzeit und vom Grad der Alkoholisierung verlässlich bis dahin unbekannte  Vor- und Zunamen, Adressen, ellenlange Telefonnummern. Gleiches galt für sämtliche Songtexte meiner Jugend, Geburtstage meiner Familie samt Freundeskreisen, Geburtstage meines Freundeskreises samt Familienangehörigen und und und.

Das Langzeitgedächtnis funktioniert nach wie vor.

Was sich vor Jahren in mein Gehirn eingebrannt hat, ist und bleibt deutlich sichtbar. Die Telefonnummer eines ehemaligen Kollegen, den ich über fünfzehn Jahre weder gehört noch gesehen und demzufolge natürlich auch nicht angerufen habe, könnte ich selbst schlaftrunken in jeder beliebigen Nacht um 3.17 Uhr wiedergeben. Ein Gedicht Erich Kästners, in der 6. Klasse auswendig gelernt, kann nach wie vor fehlerlos vorgetragen werden. Die ersten Zeilen von Cäsars De bello gallico nach 25 Jahren Latein-Abstinenz zitieren und übersetzen? Kein Problem!

Ruiniert ist hingegen mein Kurzzeitgedächtnis. Es gleicht gelegentlich einer Schachtel ohne Inhalt. 

 

 

Wissen, das ich täglich brauche, verflüchtigt sich, mal unbewusst, mal bewusst, als würde eine übereifrige Reinigungskraft im Putzwahn just im Moment der Informationsaufnahme den Neuankömmling mit Hochdruck und Intensivreiniger bekämpfen, um ihn radikal auszuradieren. Das Vergessen hat das Ziel vor Augen, die Information daran zu hindern, sich festzusetzen, sie auf Biegen und Brechen zu eliminieren, um eine alltagsfeindliche Leere zu schaffen.

Ständig wiederkehrende Szene:

Zum dritten Mal begebe ich mich in den Keller. Mein Anliegen: drei Flaschen Mineralwasser. Spätestens auf der untersten Stufe ist mir garantiert der Grund meiner Mission entfallen. Unverrichteter Dinge kehre ich nach oben zurück, um keine Sekunde später, nachdem mir der Anlass des Gangs in den Keller kurzzeitig wieder präsent war, eine weitere – natürlich sinnlose – Mission zu starten. Der Gedanke, den ich unbedingt festhalten wollte, ist wie eine Seifenblase zerplatzt.

Das erste Mal bewusst wurde mir mein Defizit in der Mitte der ersten Schwangerschaft.

Bei einer Arbeitsbesprechung mit einer Kollegin behauptete ich steif und fest, von Aufgabe XY noch nie, wirklich noch nie, etwas gehört zu haben. Mein Gegenüber – selbst schwanger – nahm dies erstaunt hin, war sich angesichts meines resoluten Auftritts jedoch nicht mehr sicher, wessen Gedächtnis wem einen Streich spielte. Am Schreibtisch straften mich meine handgeschriebenen, mehrseitigen Aufzeichnungen zu Aufgabe XY, Dokumente einer mehrstündigen Besprechung, Lügen. Damals hatte ich eine plausible Entschuldigung:

Schwangerschaftsdemenz.

Über Wochen und Monate nach der Geburt, geprägt von geistigen Aussetzern, Erinnerungslücken und Momenten des Vergessens, half mir als ebenfalls plausible Entschuldigung die Stilldemenz. Wie manche Frauen körperlich und vor allem geistig in der Lage sind oder behaupten, es zu sein, manchmal wenige Tage nach der Geburt Vollzeit und mehr in ein Power-Berufsleben einzutauchen, ist mir bis heute ein Rätsel. In postnatalen Zeiten waren einfachste Dinge wie Zeitunglesen eine Herausforderung. Am Ende der ersten Zeile angelangt war mir bereits der Anfang nicht mehr in Erinnerung. Auch war ich unfähig, zu streiten, weil mir schon nach einem Satz mein eigener Standpunkt wieder entfallen war.

Die Entschuldigungen Schwangerschafts- oder Stilldemenz sind längst Vergangenheit.

Wie lässt sich meine aktuelle Vergesslichkeit erklären? Bin ich überlastet? – Oh ja! – Bin ich krank? Zeigen sich erste Anzeichen von Alzheimer? – Bitte nicht. – Ist mein Gehirn nach Jahren des intensiven Mutterseins vielleicht unterfordert, ähnlich einem Muskel, der mangels Training erschlafft und schließlich verkümmert? – Ich weiß es nicht.

Wie helfe ich mir selbst aus der Misere?

Ich schreibe Notizzettel, behelfe mir mit Gedankenstützen. Möchte ich einen Tisch beim Chinesen reservieren, lege ich Essstäbchen neben das Telefon, dessen Weckruf bei Öffnung des Restaurants Alarm schlägt.

 

Homeoffice_mit_Homeschooling

 

Diese Taktik der Erinnerung birgt zwei Hürden:

  1. Ich muss mich erinnern, die Gedankenstütze für mich sichtbar oder hörbar zu platzieren.
  2. Ich muss mich erinnern, wofür diese steht.

Habe ich diese Hürden stolperfrei passiert, klappt es eigentlich ganz gut.

Worüber habe ich gerade geschrieben?

Keine Ahnung. Der übliche Mantel des Vergessens hat sich über mein Gehirn und jede einzelne geschriebene Silbe gebreitet. Woran soll mich das Foto der grinsenden Katze neben dem Computer erinnern? Mehr lachen? Katze kaufen?  Mal wieder keine Ahnung.

Und weißt du was? Ich verzeihe mir, bin meinem Gehirn, das tagtäglich an Wichtiges und zig Kleinigkeiten zu denken hat, nicht böse. Dann fällt halt mal ein Termin beim Kieferorthopäden oder Zahnarzt hinten runter. Na und!?


 

 

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