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Studieren in Zeiten von Corona 


UNBESCHWERTE STUDIENZEIT – WEGEN CORONA LEIDER ABGESAGT

Erfahrungen einer Studentin – ein Gastartikel von Anna Hell

Was für Generationen von Studenten eine Selbstverständlichkeit war, klingt für aktuell Studierende wie eine Überlieferung aus einer anderen Zeit: die unbeschwerte Studentenzeit. Sicher, irgendwann musste sich jeder auf den Hosenboden setzen, um seinen Abschluss zu schaffen. Doch wer hat nicht im einen oder anderen Semester das Studium zumindest ein bisschen schleifen lassen, um seine Freiheit zu genießen?

Anstatt Reiselust und Feierlaune beherrschen Leistungsdruck, akute finanzielle Sorgen und Zukunftsängste seit über einem Jahr den Studienalltag vieler junger Menschen. Das hinterlässt Spuren. Was tut die Gesellschaft? Versteift sich in Vorurteile über die angeblich so rücksichtslose Generation der Feierwütigen. Was tut die Politik? Nichts, wie es scheint. Warum nicht? Hört sie den jungen Menschen nicht zu? Das sollte sie aber. Denn junge Menschen haben viel zu sagen. Anna Hell ist ein solcher junger Mensch.

Wie es mir als Studentin im vergangenen Jahr ergangen ist und was ich aus der Corona-Krise für mich gelernt habe

Von Anna Hell

 

Die Corona-Pandemie begleitet uns nun schon über ein Jahr und ein Ende ist noch lange nicht in Sicht. Wenn ich mich in meinem Umfeld umhöre, begegnet mir immer wieder die Wahrnehmung, dass wir Studierenden und junge Menschen im Allgemeinen von der Politik schlicht vergessen werden. Der generelle Konsens lautet: Weil das Studium von Zuhause aus stattfindet, gehen die Dozierenden offenbar davon aus, man hätte mehr Zeit – mit der Folge, dass die Anforderungen im Vergleich zu Präsenzveranstaltungen vor Corona deutlich anspruchsvoller und zeitintensiver sind. Hinzu kommt, dass sich die Angaben von Prüfungsamt und Dozierenden teils widersprechen und konkrete Prüfungsformen ebenso wie der organisatorische Ablauf bis kurz vor knapp unklar bleiben. Abgesehen davon ist es für einige praktisch unmöglich geworden, das Studium an sich abzuschließen – aber dazu später mehr.

Trotz der Umstände wird von uns Studierenden erwartet, gute Leistungen zu erzielen

Wer nebenbei in der Gastronomie, im Einzelhandel oder im Kulturbereich gearbeitet hat, stand vielfach plötzlich ohne finanzielle Mittel da. Auch Praktika oder Jobs wurden teils wieder abgesagt. „Wird nicht stattfinden“ – dieser Satz beschreibt am treffendsten das Lebensgefühl der vergangenen Monate. Inzwischen gibt es eine ganze Reihe von Studierenden, die dank digitaler Lehre noch nie einen Hörsaal von innen gesehen haben, geschweige denn die Vorteile dieser für gewöhnlich unbeschwerten, lebensfrohen Zeit genießen durften.

Wer das Glück hatte, trotz der Umstände sein Studium abschließen zu können, sah sich mit der allgemeinen Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt oder gar einem faktischen Berufsverbot im Fall der Kunst- und Kulturschaffenden konfrontiert. Stellenausschreibungen sind in diesen Tagen so rar wie vierblättrige Kleeblätter – wer sie dennoch findet, dem garantieren sie noch lange nicht den ersehnten Arbeitsplatz. Der zunehmende Druck, angesichts all der Corona-Beschränkungen weiterhin zu funktionieren und Leistung zu liefern, bleibt nicht ohne psychische Folgen. Unsicherheit und Angst bis hin zu Depressionen sind die stillen Begleiterscheinungen dieser „neuen Normalität“. Dass Kontaktbeschränkungen und Isolation dabei zu Brandbeschleunigern werden, liegt auf der Hand. Solidarität bedeutet: Verzicht zugunsten anderer. Ein Großteil der Studierenden hat die Tragweite dessen über die vergangenen Monate am eigenen Leib erfahren. Das vielfach bediente Klischee der feierwütigen Jugend wirkt für all jene, die sich überwiegend an die jeweils geltenden Vorschriften halten, wie ein Schlag ins Gesicht.

Die Kontaktbeschränkungen zählen zu den schwierigsten Herausforderungen

Eine der härtesten Erfahrungen der vergangenen Monate war für mich persönlich keineswegs der Verzicht auf alles Gewohnte. Nein, eine der schwierigsten Herausforderungen bestand darin, nicht für die mir nahestehenden Personen in ihren persönlichen Sinn- und Lebenskrisen da sein zu können. Der Verlust eines geliebten Menschen, psychische und physische Krankheit, kleine und große Beziehungsdramen, Trennungen, Existenzängste. Es gibt Momente im Leben, da scheint kein Wort angemessen. Momente, in denen unsere Sprache nicht ausreicht und wir uns machtlos fühlen. Momente, in denen es einfach nur darum geht, für andere da zu sein. Das Gegenüber in den Arm zu nehmen. Mitgefühl, statt Mitleid zu zeigen. Zwischenmenschliche Nähe und Umarmungen sind neuerdings regelrecht zu Synonymen für Sehnsucht avanciert. Es geht jedoch nicht nur um die schweren, dunklen Stunden des Lebens, in denen ich meinen Lieben nicht nahe sein kann. Ich verpasse gleichsam die Sonnenstunden meines sozialen Umfelds: den Beginn einer neuen Liebe, die Geburt und das erste Lebensjahr eines Kindes, Erfolgserlebnisse in Arbeit oder Studium, neue Lebensabschnitte. Das liegt maßgeblich daran, dass ich nicht vor Ort bin. Doch selbst wenn ich zurzeit nicht bei meinem Partner in Wien leben würde, könnte ich wegen der Corona-Regelungen viele meiner Freund:innen in Deutschland nicht sehen. Von Freundschaften und Familienangehörigen in anderen Ländern als meiner Heimat ganz zu schweigen.

Meine ersten Studienjahre klingen für neue Erstsemester wie utopische Zukunftsmusik

Die Pandemie hat mir zum ersten Mal in meinem Leben schmerzhaft vor Augen geführt, welche Privilegien und Freiheiten ich als überzeugte Europäerin bislang für selbstverständlich gehalten hatte. Handlungsfreiheit, Reisefreiheit, Gewissensfreiheit, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Berufsfreiheit, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit. Erst die mehr oder weniger starke Einschränkung all dessen, was ich schlicht als gegeben wahrgenommen hatte, offenbarte die Fragilität der demokratischen Wohlstandsgesellschaft, in die ich zufällig hineingeboren wurde. Ich bin seit meinem Schulabschluss nicht nur viel gereist, sondern habe mir zudem mein Studium frei nach meinen Interessen und Fähigkeiten ausgesucht. Dank des Erasmus-Programms habe ich vor Ausbruch der Pandemie ein Semester an einer renommierten Universität in Paris studiert und zudem über meine Heimatuniversität an Studienreisen nach New York City, London und Irland teilgenommen. Erfahrungen, die ich nicht missen möchte und die Studierenden jüngerer Semester auf unbestimmte Zeit verwehrt bleiben. Auch die Sozialisierung im universitären Rahmen, der Auszug von den Eltern, neue Freundschaften, Hochschulsport, laue Sommernächte in Bars, WG-Partys, Festivals – all das, was für mich und viele andere zum Leben in einer Universitätsstadt wie selbstverständlich dazugehört hat, klingt in den Ohren der neuen Erstsemester wie utopische Zukunftsmusik.

 

Die Pandemie hat mir sehr deutlich all meine Privilegien vor Augen geführt

Im Vergleich zu den meisten anderen Menschen geht es mir in dieser Corona-Pandemie sehr gut. Ich habe schließlich keine Kinder im Homeschooling zu betreuen, bin weder Vereinsamung noch häuslicher Gewalt ausgesetzt und sehe mich auch nicht mit Existenzängsten konfrontiert. Zukunftsängste? Ja, die habe ich. Aber ich weiß auch: Selbst, wenn ich plötzlich kein Geld mehr verdienen könnte, wäre da ein Netz aus Familie und Freund:innen, das mich immer auffängt und für eine Übergangszeit davor bewahrt, aus finanzieller Not keinen Wohnraum zu haben oder auf Einrichtungen wie Tafel und Suppenküche angewiesen zu sein. Dank meiner Ausbildung werde ich auch immer irgendwo Arbeit finden – vielleicht nicht unbedingt meinen Traumjob, aber ich bin als Arbeitskraft im trockenen Arbeitsagentur-Jargon ausgedrückt auf jeden Fall „vermittelbar“. Mir ist dabei keineswegs alles zugeflogen: Ich habe mehrere Praktika absolviert und seit dem ersten Semester gearbeitet, um mir Studium, Miete, Lebenshaltungskosten und Studienaufenthalte zu finanzieren. Dennoch hatte ich eine gewaltige Starthilfe, indem ich als Schülerin eine Privatschule besuchen durfte und zudem mit Studienbeginn einen finanziellen Zuschuss von meiner Familie erhalten habe. Obwohl meine Eltern beide nicht studiert haben, komme ich aus einem mehr als bildungszugewandten Haushalt. Inzwischen arbeite ich – nach kurzer Zeit in der Gastronomie – seit über vier Jahren als freie Mitarbeiterin für die Zeitung meiner Universitätsstadt und hatte bereits lange vor Beginn der Pandemie das Privileg, mehrheitlich im Homeoffice von meinem jeweiligen Aufenthaltsort aus zu arbeiten. Auch jetzt bin ich weder von Kurzarbeit noch von Arbeitslosigkeit betroffen. Ebenso wenig mein Partner, mit dem ich bald fünf Jahren zusammen bin und inzwischen zusammenlebe.

Wenn die Krise mich folglich eines gelehrt hat, dann Demut und Dankbarkeit angesichts meiner Privilegien und all dessen, was ich bisher erleben durfte. Zeitweise habe ich mich dafür beinahe schuldig gefühlt und mir selbst nicht zugestanden, dass diese Zeit der Verunsicherung und Ohnmacht auch mir zu schaffen macht. Seit Monaten fühle ich mich, als ob das Leben mich kurzerhand für unbestimmte Zeit aufs Abstellgleis befördert hätte. Eine Zwangspause, die in meinem Fall nach Jahren auf der Überholspur und an den Grenzen meiner Belastbarkeit und Leistungsfähigkeit durchaus auch ihre guten Seiten hatte, aber mehr und mehr an meinen Nerven zerrt und angesichts ihrer scheinbaren Endlosigkeit zusehends ermüdet.

Was es heißt, in Corona-Zeiten in einem anderen Land als der Heimat zu leben

Mitten in dieser Zeit der allgemeinen Verunsicherung versuche ich, mehr oder weniger erfolgreich in einer neuen Stadt und noch dazu in einem anderen Land Fuß zu fassen. Ein Unterfangen, das ich mir um Welten einfacher vorgestellt hatte. Nicht zuletzt bei den geltenden Corona-Bestimmungen habe ich längst den Überblick verloren. Ich bin nach meinem Auslandssemester in Frankreich Ende 2019 keineswegs ans andere Ende der Welt gezogen, sondern lediglich ins angrenzende Nachbarland Österreich. Etwas mehr als 400 Kilometer sind keine große Entfernung, sollte man meinen. Familie und Freund:innen in meiner Heimatstadt München könnte ich unter normalen Umständen nach vier Stunden Zugfahrt jederzeit besuchen. Doch die Corona-Maßnahmen mit ihren zeitweisen Grenzschließungen haben die europäischen Binnengrenzen für mich zum ersten Mal in meinem Leben erfahrbar gemacht. Wäre ich nach Berlin oder Hamburg gezogen, könnte ich weitaus unkomplizierter nachhause fahren. Zuletzt habe ich meine Familie vor etwa fünf Monaten über Weihnachten besucht. Während ich in meinem halben Jahr in Paris bewusst und freiwillig kein einziges Mal nachhause oder zu meinem Freund nach Wien gefahren bin, verzichte ich nun unfreiwillig auf Reisen. Immerhin konnte ich dafür in Frankreich jederzeit Besuch von meinem Partner, Freund:innen oder Familie empfangen, während mich hier in Wien seit meinem Umzug bisher kaum jemand besuchen konnte. Glücklicherweise habe ich inzwischen gute Freund:innen in Wien gefunden und allen voran meinen Partner und seine Familie zur Unterstützung, sonst wäre ich wohl wie so viele andere, die kurz vor Beginn oder während der Corona-Pandemie in eine neue Stadt gezogen sind, schon längst wieder in meine Heimat zurückgekehrt.

 

Die Corona-Lage hat das ohnehin langwierige Einleben an einem neuen Wohnort nicht gerade erleichtert. Nach außen hin habe ich seit meiner Ankunft in Wien bisher nicht mehr als eine fehlgeschlagene Master-Bewerbung und ein katastrophales Bewerbungsgespräch vorzuweisen – bei dem ich darüber aufgeklärt wurde, dass man ohnehin österreichische Staatsangehörige bevorzugen würde. Mir ist dabei durchaus bewusst, dass ich von dieser einen Erfahrung noch lange nicht auf eine allgemeine Fremden- oder Deutschenfeindlichkeit in Österreich schließen kann.

Ein weitaus größeres Hindernis als die Arbeitsplatzsuche ist für mich derzeit ohnehin der schleppende Verwaltungsapparat der für Einwanderung und Staatsbürgerschaft zuständigen Magistratsabteilung 35. In den bürokratischen Untiefen dieser Behörde wartet seit Januar 2020 mein Antrag auf Ausstellung einer offiziellen Anmeldebescheinigung als EU-Bürgerin auf seine abschließende Bearbeitung. Angehörige des europäischen Wirtschaftsraums (EWR), die sich länger als vier Monate in Österreich aufhalten bzw. niederlassen wollen, benötigen eben dieses Dokument. Das Amt ist derart überlastet, dass die Menschen für gewöhnlich bereits mehrere Stunden vor der regulären Öffnungszeit anstehen und auf eine der stark begrenzten Wartenummern hoffen. Das wusste ich allerdings nicht, als ich (noch vor dem ersten Lockdown) pünktlich zur Öffnungszeit aufkreuzte und bereits keine Nummer mehr für den Tag ausgegeben wurde.

 

Eines Besseren belehrt, stand ich bei meinem zweiten Anlauf für die Antragstellung im Januar 2020 ab 5 Uhr früh drei Stunden in der Warteschlange und war damit bei weitem nicht die Erste. Mit Beginn der Pandemie hat sich die Lage zusätzlich verschärft. Dass eine Deutsche weder zum Studieren noch zum Arbeiten in Österreich ist, sondern schlicht aus privaten Gründen, tritt zudem offenbar so selten ein, dass ich bei jedem Behördenkontakt eine:n neue:n Sachbearbeiter:in erhalte. Hinzu kommen alle paar Monate Unterlagenforderungen, die mit meinem Antrag nichts zu tun haben. Gut möglich, dass mein Akt so lange liegen bleiben wird, bis ich mit Beginn eines Jobs oder Studiums in Wien ohnehin einen anderen stellen muss. Spätestens seitdem ich die österreichische Satire-Sitcom „MA 2412“ über den bürokratischen Alltag in einem fiktiven Wiener Amt kenne, nehme ich das Ganze mit Humor. Wer übrigens denkt, meine Erfahrung sei ein Einzelfall, sollte einmal einen Blick auf die Google-Bewertungen zur Magistratsabteilung 35 – Fachbereich EWR-Einwanderung werfen. Die Missstände sind längst auch der Wiener Stadtregierung bekannt. Wie Der Standard zuletzt berichtete, sollen die Abläufe der Behörde nun in einem „mehrjährigen Prozess“ optimiert werden. Bei der Magistratsabteilung 35 will man zudem bis 2024 die Digitalisierung von Akten und Anträgen abschließen.

Zum Vergleich: In Frankreich konnte ich als Erasmus-Studierende sogar meinen Antrag auf das staatliche Wohngeld (CAF) ohne einen einzigen persönlichen Termin digital stellen und bis zur Auszahlung über ein Online-Portal abwickeln. Bleibt abzuwarten, wann solche Möglichkeiten in Deutschland und Österreich tatsächlich flächendeckend Anwendung finden.

 

Ein Studienabschluss in Corona-Zeiten ist in meinem Fall praktisch unmöglich geworden

Während ich derzeit zunehmend ungeduldig darauf warte, am neuen Wohnort Wien mit meinem Spielbein Fuß zu fassen, ist mein Standbein über Universität und Arbeit weiterhin fest in Deutschland verankert. Dabei fühle ich mich, als ob ich in einer schwungvollen Bewegung zur Statue erstarrt wäre. Eines meiner größten Hindernisse: Seit nunmehr über einem Jahr fehlt mir zu meinem Bachelorabschluss in Augsburg lediglich die Bachelorarbeit, die ich inzwischen auch fertig geschrieben habe, ohne zu wissen, wann ich sie abgeben kann. Als ich meine Abschlussarbeit erstmals beim Prüfungsamt anmelden wollte, hatte gerade der erste Lockdown 2020 eingesetzt und die Universitäten strauchelten mehr planlos denn organisiert in das erste digitale Corona-Semester. Als dann die reguläre Themenausgabe für Abschlussarbeiten wieder möglich war, recherchierte ich zunächst weiter und arbeitete vor, um ja auf der sicheren Seite zu sein, falls der Prozess durch die Maßnahmen und Bibliotheksschließungen erneut erschwert werden sollte. Als ich wenig später endlich offiziell meinen Antrag einreichen wollte und zuversichtlich war, im Wintersemester mein Studium abzuschließen, wiederholte sich die Lage vom vergangenen Sommer: vorerst keine Themenausgabe für Abschlussarbeiten. Begründung: die Corona-Maßnahmen. Anfang Januar wurde immerhin mein Antrag angenommen. Seitdem liegt er unbearbeitet beim Prüfungsamt, der offizielle Bescheid mit meinem Abgabezeitraum lässt auf sich warten. Auf Nachfrage hieß es lediglich, die Anträge würden bis auf Weiteres zurückgehalten. Mein naives Ziel, spätestens zum Sommersemester 2021 einen Master in Wien anfangen zu können, war somit utopisch.

 

 

Die Hoffnung stirbt zuletzt!

Im kommenden Wintersemester geht es für mich nun hoffentlich endlich weiter. Die bürokratische Hürde: Für meine Bewerbung an der Universität in Wien brauche ich zwingend mein offizielles Bachelorzeugnis aus Deutschland – Ausnahmen werden nicht gemacht. Bei der einzigen Universität, die Master-Bewerbungen ohne Bachelorzeugnis ermöglicht, blieb meine Bewerbung erfolglos. Leise anklopfende Zweifel, ob ich die finale Urkunde aus Deutschland bis zum Herbst in den Händen halten werde, verdränge ich momentan. Meine Erfahrung der vergangenen Monate hat gezeigt: Die pandemiebedingten Maßnahmen erschweren sowohl in Deutschland als auch in Österreich die ohnehin schon kompliziert gestalteten Behördengänge und machen selbst einfache Telefonanfragen zur Herkulesaufgabe, von persönlichen Terminen ganz zu schweigen. Dagegen war die Organisation meines Auslandssemesters in Paris ein Kinderspiel – und das wohlgemerkt trotz der Fremdsprache. All das nehme ich jedoch gerne in Kauf, schließlich ergeht es anderen in Corona-Zeiten ebenso.

Terroranschlag in Wien: Ein Ausnahmezustand mitten in der Corona-Pandemie

Mit Abstand eines der einprägsamsten Ereignisse von nationaler Tragweite, das ich in Wien miterlebt habe, war der islamistische Terroranschlag vor einem halben Jahr, bei dem vier Personen wahllos getötet wurden. Überall in der Stadt saßen an diesem 2. November zahlreiche Menschen in Bars und Restaurants oder auf öffentlichen Plätzen zusammen, um den angenehm lauen Abend vor dem landesweiten Lockdown auszunutzen. Das Attentat platzte mitten in dieses bunte, fröhliche und ausgelassene Treiben und mit einem Schlag war die Stadt in einem Ausnahmezustand zwischen Unsicherheit und Panik. Niemand wusste, wie viele Attentäter es gab und an wie vielen Orten. Alle haben versucht, ihre Liebsten zu erreichen oder sich selbst und andere in Sicherheit zu bringen. Kaum jemand hat in dieser Nacht ein Auge zugemacht, bis in die Morgenstunden lief im ORF ein Live-Bericht mit neuesten Ermittlungsergebnissen und Augenzeugenberichten. Wer nicht nachhause kam, hat andernorts Zuflucht gefunden – auch bei uns in der Wohnung blieb ein Bekannter über Nacht. Bis weit in den folgenden Tag war die Lage ungewiss. Wer nicht zwingend das Haus verlassen musste, blieb zuhause, die Schulpflicht wurde ausgesetzt. Was mich in diesen Stunden und darüber hinaus am meisten berührt hat, war die große Solidarität in der Bevölkerung. Der allgemeine Konsens lautete: Wien lässt sich nicht spalten, sondern hält zusammen. Auch politisch wurde der Terroranschlag glücklicherweise nicht instrumentalisiert. Die Anteilnahme und das Mitgefühl mit den Angehörigen der Opfer war überwältigend groß, die Tatorte verwandelten sich in den folgenden Tagen in ein Meer aus Lichtern und Blumen. Als ich einige Tage nach dem Attentat mit einer Freundin am Desider-Friedmann-Platz im ersten Wiener Gemeindebezirk Kerzen angezündet habe, standen wir lange schweigend mit unzähligen Fremden zusammen. Auch die angrenzende Judengasse und die Seitenstettengasse waren von Kerzenlichtern und Botschaften der Anteilnahme gesäumt. Diese Form des kollektiven Gedenkens hat den viel bekundeten Zusammenhalt innerhalb der Gesellschaft leibhaftig erfahrbar gemacht. Der Satz „Schleich di, du Oaschloch!“ wurde im kollektiven kulturellen Gedächtnis der Wiener:innen darüber hinaus zu einer vergleichbaren Solidaritätsbekundung wie einige Jahre zuvor der Slogan „Je suis Charlie“ in Frankreich.

Kurzzeitig war die ganze Stadt Wien in ihrer Schockstarre wie gelähmt. Ein beunruhigendes Gefühl, das ich in einem anderen Kontext zuletzt beim Brand der Kathedrale Notre-Dame de Paris hautnah miterlebt hatte. Damals kam ich gerade aus dem Universitätsgebäude, als die Flammen auf der nahegelegenen Île de la Cité hochschlugen. Auf den Straßen standen Menschenmassen wie angewurzelt und blickten erschrocken auf das brennende Wahrzeichen ihrer Stadt. Zu diesem Zeitpunkt war wohlgemerkt noch unklar, ob es sich hierbei um einen Anschlag handelte. Während ich in Paris – nicht zuletzt angesichts der regelmäßig eskalierenden Demonstrationen der Gilets jaunes – unterbewusst ständig in Alarmbereitschaft war und mit unvorhergesehenen Ereignissen rechnete, hätte ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht vorstellen können, ausgerechnet in Wien inmitten einer weltweiten Pandemie einen Terroranschlag zu erleben. Allein durch die Tatsache, dass ich bei diesen beiden Ereignissen zufällig selbst vor Ort war, habe ich mindestens ebenso viel Anteil genommen wie bei den jüngsten Ausnahmesituationen und Attentaten in Deutschland. Auch wenn ich also bisher keine offizielle Anmeldebescheinigung für Österreich erhalten habe, fühle ich mich der Gesellschaft längst zugehörig.

Wer die Zeit der Pandemie nicht nutzt, hat später weniger Chancen am Arbeitsmarkt

Das Jahr 2020 und die vergangenen Monate dieses Jahres waren für mich in vielerlei Hinsicht herausfordernd und paradoxerweise zugleich voller Magie, Euphorie, Kreativität, Inspiration und Lebensfreude. Ich habe mich wie so viele endlich wieder auf das zurückbesinnt, was mir Freude bereitet und nicht länger versucht, den Idealen und Vorstellungen anderer zu entsprechen. Während meiner persönlichen Sinnkrise in den ersten Monaten der Pandemie habe ich für mich unter anderem allmählich das Lesen und noch viel wichtiger: das Schreiben wiederentdeckt. Bücher und Sprachen waren seit jeher meine Welt und ich hätte für mich keinen passenderen Studiengang finden können als jenen der Vergleichenden Literaturwissenschaft mit Englisch und Französisch als meinen Wahlpflichtfächern. Um die Zeit des Wartens zu überbrücken und da ich ohnehin noch an der Universität Augsburg immatrikuliert bin, belege ich seit dem vergangenen (digitalen) Wintersemester Italienischkurse und neuerdings auch BWL für Geisteswissenschaftler:innen sowie Kurse zu interkultureller Kommunikation und Präsentations- und Verhandlungsmethoden auf Englisch. Denn zur traurigen Wahrheit gehört neben all dem Verständnis in diesen Tagen auch: Wer die Zeit der Pandemie nicht zur Weiterbildung nutzt, wird in unserer kapitalistischen Leistungsgesellschaft am Ende des Tages weniger Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben.

Was ich während der Corona-Krise für mich gelernt habe

Während sich im Außen kein oder kaum Handlungsspielraum bot, habe ich immer mehr gelernt, die Zeit der Entschleunigung als solche wertzuschätzen. Nicht länger frustriert über das Hemmnis der Maßnahmen zu sein, sondern die erzwungene Isolation für mich bestmöglich zu nutzen – womit ich keinesfalls einen blinden Aktionismus meine. Ich habe vielmehr aufgehört, mich durch mein Handeln von den sich mir aufdrängenden großen Fragen ablenken zu lassen. Die Welt hielt den Atem an, wurde still und bot Raum für Heilung alter Wunden, Rückbesinnung auf das Wesentliche und rief zugleich längst vergessene Träume und Visionen in Erinnerung. Ich habe einige Zeit gebraucht, um anzunehmen, dass dies nicht die Zeit für Handlungen oder große Veränderungen war. Ich fühlte mich ausgebremst, gehemmt. Doch umso ruhiger ich wurde, desto mehr begriff ich, dass ich alle Antworten auf meine großen Fragen nach der Zukunft bereits in mir hatte.

Als ich aufhörte, über meine Unsicherheiten zu reden und stattdessen anfing, nach innen zu lauschen und meiner Intuition zu vertrauen, wurde mir mit einem Mal bewusst, dass ich mir selbst mit meinen Ängsten nur etwas vorgemacht hatte. Ich weiß und wusste im Grunde genommen immer sehr genau, was ich will. Und wo ein Wille ist, ist immer auch ein Weg. Ich hatte bisher schlicht nicht den Mut und das Selbstvertrauen, diesen Weg zu verfolgen. Meine Unsicherheit und meine Angst hatten mich zurückgehalten und mir eingeredet, meine Träume seien zu groß. Wenn mich die bisherigen 26 Jahre meines Lebens aber eines gelehrt haben, dann dass wir uns oft selbst am allermeisten im Weg stehen. Aus den unzähligen Telefonaten und teils virtuellen, teils persönlichen Gesprächen mit meinen Freund:innen weiß ich, dass ich mit Erkenntnissen dieser Art während der Corona-Pandemie keineswegs allein bin. Es scheint, als hätte die Krise die meisten von uns auf das Wesentliche zurückbesinnen lassen. Alle in meinem Umfeld haben mehr oder weniger stark für sich reflektiert, wer und was ihnen guttut und versucht, sich (mehr) Zeit dafür zu nehmen. Und das gibt mir die Hoffnung und das Vertrauen, dass all die vergangenen Monate ohne den gewohnten Trubel des Alltags am Ende des Tages keine „verlorene Zeit“ waren. Mir hilft es jedenfalls, mich nicht länger über all das zu ärgern, was gerade nicht geht, sondern auf das zu konzentrieren, was im Hier und Jetzt möglich ist. Und sei es auch nur ein Spaziergang an der frischen Luft. Wie hat Max Frisch so schön gesagt:

„Eine Krise ist ein produktiver Zustand. Man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.“

Wenn man so will, ist die Corona-Krise eine kostenfreie Resilienz-Schulung: Wir alle entwickeln allmählich zwangsweise mehr Widerstandsfähigkeit im Umgang mit Krisensituationen jeglicher Art. Und davon profitieren in Zukunft mit Sicherheit besonders wir jungen Menschen, denn die Corona-Pandemie wird bei Weitem nicht die letzte Krise gewesen sein.


 

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