Trau dich – und lies!
ICH MACH DAS JETZT.
Ich verlasse meine Komfortzone.
In zwei Tagen stelle – oder setze – ich mich hin und lese aus meinen Romanen. Eingebettet in den bundesdeutschen Vorlesetag fällt es mir leichter, die Lesung nicht als reine Selbstdarstellung zu sehen, sondern auch als Sache, die einem guten Zweck dient.
Autoren schreiben, Leser lesen
Mein bisheriger Standpunkt. Er wird wird kurzerhand über Bord geworfen. Außerdem möchte ich mein gewohntes, zum Teil abgestandenes Fahrwasser verlassen. Deshalb habe ich neue Vorsätze gefasst:
Ich gebe gelb als Kleidungsfarbe eine Chance, probiere Rosenkohl zumindest, bevor ich vor Ekel das Gesicht verziehe und verlasse meine Komfortzone. Im Optimalfall erweitere ich sie sogar.
Es gibt Rampensäue und andere Menschen.
Tendenziell gehöre ich zu den anderen Menschen. Kategorie zurückhaltend. Meine mittlere Tochter – die Olive unter den Erdbeeren – hat es kürzlich wunderbar auf den Punkt gebracht:
„Ich bin so froh, dass der Axel neben mir sitzt. Der hält wenigstens den Mund.“
Nicht jeder schätzt die Fähigkeit, zu schweigen. Seit der Einschulung bis zum Abitur wurde ich in fast jedem Zeugnis als still, oft als zu ruhig bewertet. Den Sinn dieser Bemerkungen habe ich jahrelang nicht eingesehen. Beteiligung am Unterrichtsgespräch? Wozu? Ich hatte einfach keine Lust. Nicht, weil mich der Stoff nicht interessiert hätte oder ich per se von der Schule gelangweilt war. Meine Zeugnisse waren in Ordnung, meistens mehr als in Ordnung.
Konnte man mich nicht einfach lassen wie ich war?
Zurückhaltend und still. Wieso musste ich laut oder gar vorlaut sein? Reichte es nicht, Antworten schriftlich zu geben? Musste ich sie zusätzlich in die Welt posaunen? Wozu ein Referat halten, wenn man zum selben Thema eine schriftliche Ausarbeitung verfassen konnte?
Natürlich weiß ich heute, dass das damalige Unterrichtsgespräch seinen Sinn hatte, auf das spätere Leben, die weitere Ausbildung, auf den Beruf vorbereiten sollte. Und hätte ich mich vor Jahren mündlich mehr eingebracht: Wer weiß, vielleicht hätte ich meinen Beruf als Anwältin mehr gemocht. Doch so war er für mich zum Teil ein Gräuel. Zum Berufsbild gehört nun einmal der Auftritt vor Gericht, vielleicht noch garniert mit manchmal wenig substantiellem, aber imposantem Gehabe von Anwälten und Richtern.
Um dieses notwendige Übel der verbalen Konfrontation zu umschiffen, habe ich in ein Unternehmen gewechselt. Nur auf den ersten Blick eine Verbesserung, denn an die Stelle von Gerichtsterminen traten Video- und Telefonkonferenzen, Besprechungen im größeren Kreis, Vertragsverhandlungen.
Und was muss man da? Richtig! Reden, argumentieren, diskutieren.
Und weil ich dies nicht gerne tat, hatte ich stets das Gefühl, es auch nicht besonders gut zu können.
Seit ich vor nunmehr sieben Jahren meinem bisherigen Berufsleben den Rücken zugekehrt habe, komme ich selten in die Verlegenheit, mich einem größeren Publikum zu stellen. Doch auch in kleinerem Kreise, wie an Elternabenden in Schule und Kindergarten, stört es mich. Das Reden. Selbst, wenn ich eigentlich etwas sagen möchte, wegen meiner Hemmungen aber einfach den Mund nicht aufkriege.
Damit ist jetzt Schluss!
Und falls ich wieder in alte Muster verfallen sollte, nehme ich mir ein Beispiel an meiner ältesten Tochter. Die moderierte nämlich vor gut einem Jahr als damals Achtjährige gemeinsam mit zwei anderen Kindern einen bunten Abend in der Schule, und zwar vor über hundert Menschen.
Ich muss nicht durch einen gut besuchten bunten Abend führen, nicht an einer kontroversen Podiumsdiskussion eines Konzerns teilnehmen oder im Bundestag vor einer Mehrheit politischer Gegner eine Rede zu einem heiß umstrittenen Thema halten. Ich darf einer Gruppe Interessierter aus meinen Romanen vorlesen.
Darauf freue ich mich. Freue ich mich sehr. Deshalb springe ich über meinen Schatten und verlasse die gewohnte Komfortzone:
Ich trau mich und lese. Viel Spaß beim Zuhören!