Zu viel des Digitalen?
Vater wird nach Elternabend in Klinik eingeliefert
Keine Schlägerei bei der Wahl der Klassenelternsprecher, keine Schlacht am Schulbuffet, kein Kampf vor der Schule um den besten Parkplatz. Nicht die gängigen Konfliktpunkte unter Eltern, sondern eine harmlose Informationsveranstaltung zum Thema Digitalisierung in Unter- und Mittelstufe haben den vierzigjährigen Analo G. für mehrere Wochen jäh aus dem Alltag gerissen.
Je weiter der Abend voranschritt, desto heftiger zeigten sich die Symptome: extreme Anspannung, intervallartige Schweißausbrüche, rapider Sachlichkeitsverlust. Kumulative Anzeichen beträchtlicher Betroffenheit. Wovon oder besser gesagt, worüber? Über den technischen Fortschritt.
Welcher Part des Abends A. G. in eine physische und auch psychische Ausnahmesituation katapultierte, kann nicht mehr rekonstruiert werden. Eine Achtklassmutter hat den Vorfall hautnah miterlebt. Sie berichtet, der Zustand des Mannes habe sich von Minute zu Minute verschlechtert. Zunächst habe Herr G. lediglich im Selbstgespräch den Vortrag dauerkommentiert. Begriffe wie Humbug, Verantwortungslosigkeit, neumodischer Schrott seien gefallen. Bei der Information, dass Eltern der Kauf eines neuen Tablets für den Nachwuchs nahegelegt werde, sprang der Mann aus der letzten Reihe plötzlich auf und verbalisierte seine Betroffenheit mehr als deutlich. „Ich dachte, mein Trommelfell platzt“, erzählt die Augenzeugin.
Steckt mehr dahinter als die bloße Sorge, der Nachwuchs werde künftig nicht mehr die eigenen Ohren, sondern angewachsene EarPods zum Hören verwenden?
„Nicht unbedingt“, erklärt Frau Dr. Felder-Brinkschler, Chefärztin auf der neu geschaffenen Station für Elterngesundheit im Klinikum Rechts der Isar in München. „Es gibt sie zwar auch, die Informatikskeptiker, Computergegner oder auch Internetleugner. Doch im Fall Analo G. haben wir es mit einem stinknormalen Digitalschock zu tun. Verursacht wurde dieser vermutlich durch monatelanges Homeschooling, das so manche Eltern an die Grenzen der Belastbarkeit und darüber hinaus gebracht hat.“ Genaue Zahlen buchstäblich betroffener Väter und Mütter gibt es nicht, die Dunkelziffer dürfte jedoch enorm sein. Wer täglich vom eigenen Job abgehalten wird, weil er sich im Interesse von Sohn oder Tochter um das Funktionieren von Videokonferenzen über Teams oder die Beschaffung von Lernmaterial über Mebis kümmert, entwickelt früher oder später eine Aversion gegen IT-gestütztes Lernen jeglicher Art.
Problem erkannt. Doch was ist die Lösung? Schließlich dreht sich die Welt weiter und wer Transformation, Automatisierung und alles, was mit digitalem Fortschritt zusammenhängt, kategorisch ablehnt, wird sich künftig schwer tun in einer Welt, die vieles ist, nur nicht mehr analog.
“Wir haben keinen blassen Schimmer“, die ehrliche Antwort von Dr. Felder-Brinkschler. „Als Ad-hoc-Maßnahme haben wir dem Patienten die Gesamtausgabe des Brockhaus in gebundener Form hingestellt mit der Aufgabe, sich von A bis Z durchzuarbeiten.“ 30 Bände, rund 24.500 Seiten bei etwa 300.000 Stichwörtern. Da ist Analo G. erst mal eine Weile beschäftigt. Hoffentlich genug Zeit, sich von seiner Betroffenheit zu erholen.